Unwetterkatastrophe
im Wallis - Eine Chronik:
Von Karin Imhof und Bruno J. Kalbermatten
Freitag, 13. Oktober 2000
Während Tagen wüten
heftige Regenfälle über dem Wallis. Zwischen Bitsch
und Mörel verschüttete ein Erdrutsch bereits die Strassen-
und Bahnverbindungen von Brig in Richtung Goms.
Samsatg, 14. Oktober 2000
Die Lage im gesamten Wallis ist
prekär. Immer wieder werden kleinere Murgänge registriert.
Doch alles wird noch schlimmer. Eine Katastrophe bahnt sich an.
Gondo:
Ein Erdrutsch begräbt das Walliser Dorf Gondo. Häuser
wurden wie Spielzeuge weggerissen, mit ihnen auch die Menschen
die sie bewohnten. Drei Personen sind vermutlich tot, 15 werden
noch vermisst. Roland Squaratti, Gemeindepräsident von Gondo
gibt die Hoffnung auf Überlebende nicht auf. Unter dem Schuttkegel
sind zwei seiner Brüder begraben. Gondo ist von der Umwelt
abgeschlossen, auf sich selbst gestellt. Erst nach Stunden treffen
erste Rettungskräfte ein.
Brig:
Ähnlich wie bei der Unwetterkatastrophe im Jahre 1993 führt
die tobende Saltina Hochwasser. Durch das Bachbett der Saltina
fliesst deutlich mehr Wasser als damals. Brig-Glis musste mit
all seinen Mitteln gegen die reissenden Fluten ankämpfen.
Das Wasser riss ein Leck in die Ufermauern und in die neue Simplonstrasse.
Naters:
Die Rhone steigt bedrohlich an. Die FO-Brücke muss angehoben
werden, um den Durchlass des Hochwassers zu gewährleisten.
Visp:
Die Vispe führt Hochwasser. Die Landbrücke wird ständig
überwacht. Die Lonza-Werke fahren aus Sicherheitsgründen
ihre Produktionen herunter. Gefährliche Güter werden
auf höhere Etagen evakuiert.
Sonntag, 15. Oktober 2000
Nach sintflutartigen Niederschlägen
herrscht der Ausnahmezustand. Ab 17.00 Uhr ist das Wallis von
der Umwelt abgeschnitten. Alle Seitentäler sind abgeschnitten.
Die Wasserversorgung ist grösstenteils unter-brochen. Der
Rotten tritt über die Ufer.
Gondo:
Bis am Sonntagabend konnte niemand der 13 Vermissten gefunden
werden. Bundesräte Adolf Ogi und Pascal Couchepin besuchen
den Katastrophenort. Sie zeigen sich erschüttert über
die Situation und bieten Hilfe an. Nebst den kantonalen Rettungseinheiten
steht auch die Armee für Rettungseinsätze bereit.
Neubrück bei Stalden:
Der Reiterbach reisst mit einer Schlammlawine in Neubrück
ein Restaurant mit Wohnung und ein Wohnhaus in die Vispe. Zwei
Personen werden vermisst. Vier weitere Personen werden rechtzeitig
in Sicherheit gebracht oder können sich selber retten. Die
Vispe staut sich bedrohlich in Richtung Ackersand.
Baltschieder:
Das Hochwasser des Baltschiederbaches richtet in Baltschieder
ein Bild der Verwüstung an. Wie durch ein Wunder kommen
keine Personen zu Schaden. Die Bewohner des Dorfes können
fast ausnahmslos rechtzeitig evakuiert werden.
Mörel:
Ein Haus ist zum Teil weggeschwemmt worden. Mehrere Evakuationen
finden statt.
Naters:
Im Quartier Triesta tritt die Rhone über. Der Kelchbach
führt enorm viel Wasser mit sich. Die Feuerwehr und der
Zivilschutz verhindern jedoch ein Übertreten der gewaltigen
Wassermengen. Die Trinkwasserversorgung wird durch die heftigen
Niederschläge unterbrochen. Die Bevölkerung wird vorübergehend
mit Wassertanklastwagen versorgt.
Brig:
Die Hochwasserlage in Brig hat sich am Samstag verschärft.
Die tobende Saltina war kaum zu bändigen. Die Saltinabrücke
wurde aus Sicherheitsgründen angehoben, die Spittelmattenbrücke
wurde entfernt.
Mattertal:
Zermatt ist von der Umwelt abgeschlossen. Es bestehen weder Strassen-
noch Kommunikationsverbindungen.
Saastal:
Ebenfalls das Saastal ist vollständig auf sich selbst angewiesen.
Der Pegel des Mattmarkstausees steigt auf eine gefährliche
Höhe. Dank des Schneefalls ist die Gefahr jedoch gebannt.
Martinach:
Auf der Strasse oberhalb von Martinach ist eine 55-jährige
Frau aus Evionnaz ums Leben gekommen. Ihr Auto wurde von den
Wassermassen eines Wildbaches mitgerissen, der an dieser Stelle
über die Strasse donnerte.
Fully:
Mehr als 2000 Personen werden evakuiert, deren Haus von Überschwemmungen
oder Erdrutschen bedroht ist.
Montag, 16. Oktober 2000
Die Rettungskräfte suchen
nach wie vor nach Überlebenden. Die allgemeine Strassensituation
im Rhonetal entspannt sich. Der Rhonepegel sinkt um ca. 60 cm.
Es ist aber keinesfalls von einer Entwarnung im Naturkatastrophengebiet
Wallis zu reden.
Gondo:
Die fieberhafte Suche nach Überlebenden geht weiter. Gondo
steht zwischen Hoffen und Bangen. Eine Frau wird tot geborgen.
Die Rettungskräfte hören aus dem Schuttkegel Hilferufe
und Klopfzeichen einer Verschütteten. Trotz intensiver Bemühungen
gelingt es den Rettern bis am späten Abend nicht, die Überlebende
zu bergen. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt.
Neubrück/Stalden:
In Dorénaz bei Martinach findet man in der Rhone die Leiche
einer 70-jährigen Frau aus Stalden. Sie war nach dem Erdrutsch
vom Sonntag in Neubrück vermisst worden. Die zweite Person
wird am Sonntag Abend immer noch vermisst.
Baltschieder:
Die Evakuation von 700 Personen wird aufrechterhalten. Tausende
von Kubikmetern Geröll und Schutt liegen im alten Dorfteil.
Die Aufräumungsarbeiten werden Wochen bis Monate dauern.
Naters/Brig:
Der Alltag ist wieder eingekehrt. Geschäfte öffnen
und die öffentlichen Verkehrsmittel sind wieder in Betrieb.
Mattertal:
Zermatt ist nur per Helikopter erreichbar. Das Trassee der BVZ-Zermatt-Bahn
ist auf rund einem Drittel beschädigt. Der ordnungsgemässe
Bahnebetrieb wird für Monate unterbrochen sein.
Saastal:
Die Verkehrswege sind weiterhin unbefahrbar. Telefonverbindungen
sind nur innerhalb des Saastals möglich.
Gampel-Steg:
Die Lonza führt Hochwasser. Sowohl Feuerwehr wie auch der
Zivilschutz beteiligen sich an den Aushubarbeiten des Lonza-Bachbetts.
Die Strasse Steg-Goppenstein ist gesperrt.
Dienstag, 17. Oktober 2000
Das Wetter beruhigt sich, erste
Sonnenstrahlen dringen durch den grauen Regenhimmel. Das AusmasS
der Schäden wird sichtbar. Bislang wurden im Wallis seit
Sonntag sechs Leichen geborgen, zehn Personen werden immer noch
vermisst - neun allein in Gondo. Die Arbeiten konzentrieren sich
auf Gondo, Baltschieder, Saas- und Mattertal.
Gondo:
Im Katastrophendorf Gondo werden drei weitere Tote geborgen.
Die Opferbilanz des verheerenden Erdrutsches erhöht sich
damit auf vier. Weitere neun Menschen werden vermisst. Aus den
Trümmern ertönen keine neuen Lebenszeichen mehr.
Baltschieder:
Der Bevölkerung von Baltschieder wird für kurze Zeit
erlaubt, staffelweise in ihre Häuser zurückzukehren.
Unter Begleitung von Hilfskräften können persönliche
Gegenstände und Kleidung geholt werden. Für die Betroffenen
ist ihr Dorf ein deprimierender Anblick der Verwüstung.
Neubrück/Stalden:
Die Suche nach der vermissten Person geht weiter. Die Rettungsaktionen
laufen auch Hochtouren.
Brig/Naters:
Das Alltagsleben ist zurückgekehrt. Die Aufräumarbeiten
der vergagenen Tage beginnen.
Bitsch-Mörel:
Die Verbindung von Brig in Richtung Goms ist unterbrochen. Als
Ursache gilt der Erdrutsch bei der Kappelle "Zur hohen Flüe".
Mattertal:
Das innere Nikolaital ist immer noch nur per Helikopter zu erreichen.
Die Schäden an der BVZ-Zermatt-Bahn zeigen sich als gravierend.
Zwischen St. Nicklaus und Zermatt wird baldmöglichst ein
Bus-Notbetrieb erstellt. Hunderte von Touristen möchten
aus dem Krisengebiet flüchten. Sie wollen ihre Angehörigen
informieren. Der Kampf um ein Helikopterticket beginnt.
Saastal:
Auch das Nachbartal Saas ist von der Umwelt abgeschnitten. Kontakt
zur Aussenwelt ist nur über den Luftweg möglich.
Im übrigen Teil des Wallis
laufen die Aufräumarbeiten weiter. Die Bilanz der Schadensumme
beträgt schätzungsweise mehrere Milliarden Franken.
Die Schweizerische Glückskette sammelt bereits Spenden,
welche auf das Konto 10-15000-6 mit dem Vermerk "Unwetter
Schweiz" einbezahlt werden können. Auch "Oberwalis
hilft Oberwallis" sammelt Gelder für die Opfer der
Naturkatastrophe im Wallis.
Das Nummer des Spendekontos lautet: 19-1206-0 mit
dem Vermerk Oberwallis. |